
Anlässlich der Übergabe des Postens in Kunduz schloss Verteidigungsminister de Maizière sein Grußwort „aus Respekt und aus Zuneigung zu diesem Land und seinen Menschen“ mit einer traditionellen „afghanischen“ Erzählung. Sie hieße ,Der alte Bauer und seine drei Söhne‘. Und sie ginge so: „Es war einmal ein Bauer, der hatte drei Söhne. Als er starb, ließ er seine drei Söhne zu sich kommen und sagte: Ich habe einen Schatz für Euch. Er befindet sich auf dem Feld. Wer ihn als erster findet, dem gehört er. Der Vater starb. Die drei Söhne gruben jede Ecke des Feldes um. Den Schatz fanden sie nicht. Als sie jedoch im Herbst die besonders guten Erträge verkauft hatten, verstanden sie die Worte des Vaters“. In diesem Sinne wünsche er, de Maizière, den afghanischen Partnern Mut, Kraft und auch Geduld, damit sie ihre schwierige Aufgabe gut meistern, damit die Ernte gut wird.
Minister de Maizière hat genug klassische Bildung, um zu wissen, dass diese Erzählung zum pädagogischen Grundbestand aller bäuerlich-agrarischen Gesellschaften gehört. Sie richtet sich an die Familie, erinnert die nächste Generation daran, worauf aller Wohlstand beruht. Mit Staatsbildung hat sie nichts zu tun. Umgraben, umgraben und nochmal umgraben, damit die Ernte gut wird. Daran muss man die bäuerliche Bevölkerung in Afghanistan nicht erinnern. Als Aufforderung gedacht kann die Nacherzählung in afghanischen Ohren wie Hohn klingen.
Flucht nimmt wieder zu
Zwei Reporterinnen des Wall Street Journals berichten am 15. Oktober von einer 37-jährigen Mutter von sechs Kindern, die im letzten Jahr aus dem ländlichen Wardack mit ihren sechs Kindern an den Rand von Kabul geflüchtet ist. Sie hätte keine andere Chance gehabt, erzählt sie. „Die Taliban zwangen uns Nahrungsmittel für sie bereit zu stellen. Aber wenn wir das machten, würde uns die Regierung drangsalieren. Wir wurden in der Mitte zerquetscht.“ Wo bleibt da ein Feld zum Umgraben? Es bleibt zurück.
Nach den Daten des UNHCR war die Zahl der innerafghanischen Vertriebenen und Flüchtlinge nach einem Höchststand von über 600 000 im Jahr 2002 bis 2006 auf deutlich unter 200 000 gesunken. Das war der Tiefstand. Ab 2007 stieg mit der Rückkehr der Taliban und des Bürgerkriegs die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen in den folgenden Jahren wieder ständig an und erreichte 2013 bereits im August fast wieder den Höchststand von 2002. Selbst wenn man Zeit zum Umgraben gehabt hätte, hätte man oft keine Möglichkeit zu ernten gehabt. De Maizières Zitat aus glücklicheren Zeiten der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur musste auf die anwesenden Afghanen wie ein fernes Märchen wirken. Im Märchen kann man auch den Austausch von bemalten Pappschlüsseln mit der Übergabe von Macht verwechseln.
Wer ist in dieser Ansprache in die Rolle des alten Bauern und Erblassers geschlüpft? Der Verteidigungsminister und die Bundeswehr! Zusammen mit Westerwelle übergibt er die Schlüssel. Nun können die Afghanen um die Wette arbeiten. Muss man ihnen dafür einen Schatz versprechen? Was als Ehrerbietung gedacht war, erweist sich als Ausdruck von Gleichgültigkeit und Unverständnis. Man kann nur hoffen, dass das in der Übersetzung nicht rüberkam.
Die Redenschreiber im Verteidigungsministerium müssten doch nach so vielen Besuchen des Ministers in Kunduz eine gewisse postkoloniale Sensibilität entwickelt haben. Das ist nicht der Fall. Wenn auf höchster Ebene solche Patzer bei einem feierlichen Anlass passieren, da mag es trotz bestem Willen den Soldaten im afghanischen Alltag nicht besser gehen.
Im Krieg, aber in welchem?
War es nun de Maiziére oder schon der maulfertige Freiherr, dem die Kommentatoren das Verdienst zuerkannten, zum ersten Mal das Wort „Krieg“ für die Situation in Afghanistan in den offiziellen Mund genommen zu haben? Das braucht man nicht nachzuschauen. Wichtig ist, um welchen Krieg ging und geht es in Afghanistan genau? Das ist bis heute unter den Protagonisten des Kriegsgeschehens umstritten.
Da gibt es den Krieg gegen den Terror, der vor Ort fast allein von den USA unter dem Etikett Operation for Enduring Freedom geführt wird. Bei den UN läuft dieser Krieg unter dem Recht auf Selbstverteidigung, wie es durch die Sicherheitsratsresolution 1368 vom 12. September 2001, also einen Tag nach den Anschlägen in New York und Washington, bekräftigt wurde. Bei OEF als Selbstverteidigung der USA und ihrer Verbündeten geht es offensichtlich um deren Freiheit, die erhalten bleiben soll. Dieses Mandat hatte der verstorbene frühere Verteidigungsminister Struck wohl im Sinn, als er behauptete, am Hindukusch werde die Sicherheit Deutschlands verteidigt. Tatsächlich besteht der militärische Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan aber fast ausschließlich in der Beteiligung an ISAF, der Schutz- und Unterstützungstruppe, die durch die Sicherheitsratsresolution 1386 vom 20. Dezember 2001 autorisiert wurde. In diesem Mandat geht es - unter Betonung des Engagements für die Souveränität, Unabhängigkeit, territoriale Integrität und nationale Einheit Afghanistans - darum, die Bedingungen zu sichern, unter denen Afghanistan seine Regierungsinstitutionen wieder aufbauen kann. Es geht nicht um Selbstverteidigung, sondern um die Verteidigung von anderen. Ausdrücklich aber wird anerkannt, dass die Verantwortung, die Sicherheit, Recht und Ordnung zu gewährleisten, im ganzen Land bei den Afghanen selbst verbleibt.
Wenn überlegenes fremdes Militär notwendig ist, um die Souveränität eines Staates zu sichern, sind Konflikte unvermeidbar. Dass sie nicht überhandnehmen, wird vor allem vom Auftreten der fremden Truppen in ihren höchsten Rängen bis zu den Soldaten, die Patrouillen durchführen und in Kämpfe verwickelt werden, abhängen. Für die Bundeswehr im Norden schien das lange weitgehend unproblematisch, bis sich auch dort die Rückkehr der Taliban immer bemerkbarer machte.
Wurde die Bundeswehr, wurde die ISAF insgesamt mit der Rückkehr der Taliban nun zur Partei in einem Bürgerkrieg? War eine solche Parteinahme im Bürgerkrieg durch das Mandat gedeckt? Im Grunde entziehen sich die UN und die Regierungen, die in Afghanistan Truppen im Einsatz haben, der Beantwortung dieses Problems. Stattdessen bereiten sie sich darauf vor, sich dem Problem selbst zu entziehen. Das Mandat läuft 2014 aus. Bis dahin sollen alle militärischen Einsätze von afghanischen Truppen ausgeführt werden können. Verbleibende Ausbildungsfragen, ihre Finanzierung etc. werden Vereinbarungen mit der afghanischen Regierung überlassen.
Von entscheidender Bedeutung sind die Verhandlungen zwischen den USA und der afghanischen Regierung darüber, ob, in welchem Umfang und in welcher Rechtstellung Streitkräfte der USA nach 2014 im Land bleiben sollen. Hier nun, wie bei den Verhandlungen mit Teilen der Taliban, ist die Charakterisierung des Krieges politisch relevant. Handelt es sich um einen Bürgerkrieg, dann ist er eine innere Angelegenheit Afghanistans, handelt es sich immer noch in erster Linie um einen Krieg gegen den internationalen Terrorismus, bleibt er weiterhin eine internationale Angelegenheit. Jetzt muss das geklärt werden.
Der Frust des Präsidenten
Der Beauftragte Obamas für Afghanistan, James Dobbins, hatte davon gesprochen, dass in Afghanistan Bürgerkrieg herrsche. Das ist die übliche westliche Sicht. Auf der Homepage des afghanischen Präsidenten handelte Dobbins sich allerdings mit seiner Bemerkung eine harsche Kritik ein. Der Sprecher des Präsidenten, Aimal Faizi, hatte in einem Interview entgegnet: „Wenn es in Afghanistan wirklich einen Bürgerkrieg gibt, dann heißt das, dass die Vereinigten Staaten in den letzten zehn Jahren nicht den Terrorismus bekämpft, sondern einen Bürgerkrieg geführt haben und so erst intensiviert haben, was sie nun als Bürgerkrieg bezeichnen.“ Der Bürgerkrieg wäre dann erst das Ergebnis eines falsch geführten Kriegs gegen den Terrorismus.
Die afghanische Seite sei von Anfang an dagegen gewesen, den Krieg in Afghanistan nicht als Krieg gegen den Terror, sondern als Aufstand zu bezeichnen, „denn dann handelte es sich um eine innere Angelegenheit Afghanistans, die keinerlei militärische Einmischung der USA“ verlange. Der Grund für die Anwesenheit der Vereinigten Staaten und der NATO, wie sie von den UN mandatiert sei, sei allein der Kampf gegen den Terrorismus. Das mag als Streit um Kaisers Bart erscheinen, ist aber wichtig für das Selbstverständnis der afghanischen Regierung.
Präsident Karzai sagte in einem Interview mit dem chinesischen Fernsehen (28.9.), nur außergewöhnliche Umstände hätten dazu geführt, dass die Afghanen als sehr stolze Nation die Präsenz fremder Truppen im Land akzeptierten. „Der Terrorismus in Afghanistan, die Anwesenheit von Al Qaida, die Grausamkeiten der Taliban in Afghanistan sowie die einmütige Entscheidung der internationalen Gemeinschaft, Afghanistan Unterstützung zu bieten, bewirkten, dass die Afghanen die internationale Gemeinschaft willkommen hießen.“ Gegenüber BBC kritisierte Karzai am 7. Oktober, dass der ganze NATO-Auftritt an der Sicherheitsfront Afghanistan viel Leid gebracht hätte, aber keine Gewinne, weil das Land nicht sicher sei. Die NATO habe den Kampf fälschlich auf die afghanischen Dörfer, statt auf die sicheren Häfen der Taliban in Pakistan ausgerichtet.
Diese Argumentation versucht die Ursachen des Krieges nach außen zu verlagern und die NATO dafür zu kritisieren, dass sie diese Ursachen, statt sie außen zu bekämpfen, erst ins Innere verpflanzt hätte. Auch die Korruption im Land sei großen Teils von außen hineingetragen. So ungerechtfertigt diese Argumentation sein mag, so hat sie doch den Sinn, den Boden zu bereiten für eine Verständigung der Afghanen untereinander. Die islamistischen Gruppen seien Afghanen. Er führe Gespräche mit ihnen. Wo der afghanische Präsident einen Taliban in einen Regierungsjob berufe, sei er willkommen. Wo aber das Volk in Wahlen Vertreter und Vertreterinnen des Volks mit Staatsaufgaben beauftrage, sollten die Taliban kommen und sich an den Wahlen beteiligen. Das zielt auf die Taliban als Afghanen und auf Gruppen von Taliban, die sich am afghanischen Staat beteiligen wollen. Es ist kein Verhandlungsangebot an die Taliban. Karzai will das Image einer Marionette der Amerikaner loswerden und appelliert an die Einheit der Nation. Er tut dies aus der Position des gewählten Repräsentanten der Nation.
Die Macht der Fiktion
Karzai kann sich nicht aus der tatsächlichen Abhängigkeit von fremden Truppen und fremden Geldern befreien. In westlichen Publikationen ist dann von einer de jure Souveränität Afghanistans die Rede, die es de facto gar nicht gebe.
Karzai ist der Gefangene der Ausgangslage seiner Präsidentschaft. Er kann sich in seiner tatsächlichen Schwäche nach außen und innen nur behaupten, wenn er auf die Souveränität Afghanistans beharrt und die Unabhängigkeit des Präsidenten betont. Daher auch der Wunsch in aller repräsentativen Würde auch gebührend gewürdigt zu werden. Jedenfalls sollte ihn der Westen in dieser tragischen Pose nicht noch zusätzlich verletzen, indem er die Gespräche mit den Taliban teils hinter seinem Rücken betreibt. Es ist ja nicht so, dass es auf der einen Seite einen machtlosen afghanischen Präsidenten gibt und auf der anderen Seit die USA und ihre Verbündeten, die genau wissen, wo es langgeht.
Die Wahrnehmung, dass sich in Afghanistan erneut die Fronten eines Bürgerkriegs herausgebildet haben, führte zu der Entscheidung, ISAF auslaufen zu lassen und die eigenen Truppen abzuziehen. Wenn klar ist, dass aus dem Bürgerkrieg nur die Afghanen selbst herausfinden können, sollte man das Ansehen der staatlichen Institutionen nicht herabsetzen und selbst fiktive Macht ernst nehmen. Die Einheit Afghanistans bestand, wann immer es sie gab, in einer eher symbolischen Zentralmacht und in regionalen Machtzentren, die auf die Vermittlung durch die zentralen Institutionen angewiesen waren. In einem Land mit so unterschiedlichen Kräftegruppierungen entspringt der Bürgerkrieg nicht aus der Vielfalt von Machtzentren, sondern aus dem Versuch sie einer Zentralmacht zu unterwerfen. Die Kommunisten scheiterten bei ihrem Versuch trotz gewaltiger russischer Unterstützung. Der Versuch der Taliban brach in sich zusammen, als er der ersten großen Herausforderung gegenüberstand. Es blieb ihnen nur der Rückzug nach Pakistan, von wo sie zu ihrem Eroberungszug aufgebrochen waren. Der Bürgerkrieg unter den Mudjaheddin war dem Kampf um die Beherrschung Kabuls entsprungen. Man sollte den afghanischen Präsidenten, auch den neuen, der vielleicht im nächsten Jahr gewählt wird, nicht an seiner (fehlenden) Machtvollkommenheit, sondern an seiner Fähigkeit zur Vermittlung und Moderation messen. So gesehen, mag es sein, dass Karzai in den nächsten Jahren als Präsident fehlen wird.